Sonntag, 23. Juli 2017

Der Geist, der stets verneint

Es scheint fast so, als wolle der Teufel bereits am Nachmittag Grüße aus der Hölle schicken. Als hätte er seinen Untertanen befohlen, eimerweise Wasser über die Erde zu schütten. Dabei habe ich mich so auf diesen Tag gefreut – auf die „Faust“-Aufführung im Rahmen der Klassikertage in Wismar. Und dann noch in der ehrfurchtsvollen Sankt Georgen-Kirche, eine der größten Backsteinbauten Nord- und Ostdeutschlands, von deren Aussichtsplattform man einen eindrucksvollen Blick auf die Altstadt und den Hafen hat.



 
Glaube ich meiner Internetrecherche, muss es 15 Jahre her sein, dass ich mir in Wismar die Ausstellung „GEBRANNTE GRÖSSE - Wege zur Backsteingotik“ in der Marienkirche und der Sankt Georgen-Kirche, diese im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigte und zu DDR-Zeiten weiter verfallene Kirche, ansah. Die Backsteingotik „als Zeichen norddeutscher Identität, als Zeichen europäischer Geschichte und Zukunft gleichermaßen“, wie es Prof. Jobst Plog formulierte. 2002 – in dem Jahr, in dem sich Wismar mit der Aufnahme in das Weltkulturerbe der UNESCO internationale Anerkennung erwarb. 
 
Doch statt uns die Kirche näher anzuschauen, entscheiden meine Freundin und ich uns zunächst trotz schwachem Nieselregen für einen Spaziergang hinunter zum Hafen. Der Wetterbericht hat in uns die kleine Hoffnung geweckt, dass die Sonne sich doch noch zeigen wird und ich meine geplanten Fotos machen kann.
Es ist ein typischer Fall von „denkste“. Nachdem wir den Hafen erreicht haben, fängt es in Strömen an zu regnen und wir harren stundenlang im „Il Casale“, einem gehobenen Italiener im alten Zeughaus, unter großen Schirmen aus. Immerhin schmecken die gegrillten Calamaris und der Montepulciano vorzüglich. Die Hoffnung allerdings, wenigstens trockenen Fußes zur Aufführung zu kommen, zerschlägt sich. Wir müssen ein Taxi nehmen, um nicht völlig durchnässt – was bei meinem Tempo unausweichlich wäre – anzukommen.

Endlich im Trockenen und heil auf dem nassen rutschigen Kopfsteinpflaster angekommen, nimmt mich dieser beeindruckende gotische Sakralbau gefangen – mit seiner mächtigen Raumhöhe und seinen spitz zulaufenden Bögen. Aus meiner Sicht das absolut passende Ambiente für diesen Stoff, bei dem Gut und Böse so dicht beieinander liegen. Für die Ambivalenz der beiden Protagonisten - Faust und Mephisto. 
 
Mir ist das Faustsche Streben nach Kreativität vertraut. Dieses Nicht-Los-Lassen-Können. Dieses Festbeißen an einer Sache. Wie kann ich zum Beispiel Öffentlichkeit für ein Thema schaffen, das nicht dem Mainstream folgt? Wie kann ich journalistisch dazu beitragen, Randgruppen stärker in den Fokus zu rücken? Gleichzeitig teile ich die Angst, die auch Faust zeitlebens umtrieb, man könne irgendwann zufrieden sein und sagen: „Verweile doch! du bist so schön!“ Nein, statt zufrieden zu sein, will Faust lieber zugrunde geh. Dafür verkauft er seine Seele dem Teufel.






Ja, ich gestehe: Ich hege große Sympathie für Mephisto, der von sich behauptet:
Ich bin der Geist, der stets verneint!
Und das mit Recht, denn alles, was entsteht,
Ist wert, daß es zugrunde geht;
Drum besser wär’s, daß nichts entstünde.
So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz, das Böse nennt
Mein eigentliches Element.

Ein Freund behauptet von mir, dass ich ein großer Skeptiker, Zweifler sei. Und in der Tat schaue ich mir Dinge erst einmal in Ruhe an, lasse sie auf mich wirken, spüre ihnen nach und beginne meinen ersten Satz häufig mit einem: „Aber...“ Ja, alles erst einmal anzweifeln, infrage stellen. Nichts als Gegeben hinnehmen. Ich will meinen eigenen Kopf gebrauchen und die Dinge selbst gestalten. Schon in der Festzeitung nach Abschluss meines Studium war über mich zu lesen: „Lieber eine Handvoll Graupen im Kopf als den Brei durchgekauter Gedanken.“ Nicht immer der einfache Weg. Nicht immer auf Erfolgskurs. Dafür aber bestimmt von der Überzeugung, dass Inhalte schwerer wiegen als Ruhm und Geld.

Die Aufführung von Holger Mahlich entschädigt mich für den verregneten Tag. Sie ist nah am Goetheschen Text inszeniert, so wie ich es mag. Und mich berührt vor allem das Spiel von Mario Ramos als Mephisto mit seiner Ironie, seiner Vitalität, mit seiner Leidenschaft. Ausgezeichnet! Aber auch Sascha Gluth als Faust und Elinor Eidt als Margarethe glänzen in ihren Rollen. Entzückend trocken Ben Hecker als Direktor, als Vorhang-Zieher, der die einzelnen Bilder ansagt und dabei dem Publikum nur kurze Worte, mitunter nur ein einziges hinwirft. Respekt sei auch der Tatsache gezollt, dass gemeinsam mit den Darstellern des „Faust“ Laiendarsteller der Wismarer Werkstätten vor einem breitem Publikum auf der Bühne der St.-Georgen-Kirche stehen. Wunderbar ebenso die Kulisse von Bühnenbildner Falk von Wangelin.





Einziger Kritikpunkt an der Aufführung aus meiner Sicht:: Die Faustfigur ist eine Idee zu stark auf die Liebe zu Gretchen fixiert, statt noch stärker sein Streben nach schöpferischer Vollendung zu verdeutlichen. 
 
Fazit: Ein großartiger Abend und der feste Vorsatz wiederzukommen – um für Euch die versprochenen Fotos zu machen. Und um im Oktober die Ausstellung "Gebrannte Größe - Bauten der Macht" anzusehen.

(Am 16.07.2017 gab es übrigens den „Faust“ komplett barrierefrei - insbesondere für Menschen mit Seh- und Hörbehinderung. Da muss ich noch mal genauer nachfragen.)




Donnerstag, 20. Juli 2017

Neue Wege gehen

Ich stehe mitten auf dem Holzmarkt in Tübingen, dieser entzückenden kleinen schwäbischen Universitätsstadt mit ihren fast 90.000 Einwohnern, von denen etwa ein Drittel Studierende sind. Die Stadt, deren mittelalterlicher Kern liebevoll restauriert wurde und die bekannt ist für ihren Blumenschmuck. Es sollen rund 300 Blumenkästen und 30 Blumenampeln sein, die Brücken, Geländer und Laternenmasten schmücken, jedes Jahr in wechselnden Farben. In diesem Jahr sind es die Farben Silber, Weiß, Rosa und Blau, dazu etwas Burgund. Wunderschön.



Gerade bin ich auf Empfehlung eines Freundes oben im Innenhof des Schlosses gewesen und habe auf die Stadt hinuntergesehen. Habe die großartige Aussicht genossen. Danach habe ich auf dem Scooter, den mein Freund mir geliehen hat und ohne den ich niemals in so kurzer Zeit so viel hätte sehen können, die Stadt erkundet - holpernd über Kopfsteinpflaster, das es hier in kaum zu überbietendem Ausmaß gibt. Nun schaue ich den Touristen und Einheimischen zu, wie sie auf den Stufen der Stiftskirche sitzen, wie sie in den Cafes Eis essen. Und frage mich, was ich hier eigentlich tue, über 870 Kilometer von zu Hause entfernt.



Ich muss irgendwie verrückt sein. Warum unternehme ich immer wieder diese langen Fahrten? Wo ich doch in einem Bundesland lebe, in das viele Menschen fahren, um dort Urlaub zu machen. Wonach suche ich? Wovor laufe ich weg? Warum habe ich bisher nicht das gefunden, was andere Menschen ihre Wurzeln nennen? Warum fühle ich mich so heimatlos? Bei Volker und Iris, bei denen ich auf meiner Reise einen Zwischenstopp einlegte, scheint mir genau das anders zu sein. Sie haben sich einen Traum verwirklicht und sich unweit von Heidelberg ein kleines Paradies geschaffen, ganz auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten. Und wenn es auch nicht mein Ding wäre, in so einer Einfamiliensiedlung zu leben. Es scheint, als  hätten sie  dieses Haus zu einem festen Anker in ihrem Leben gemacht.

In der Nacht von Freitag zu Samstag hatte Volker nach den saftigen Steaks vom Metzger zu später Stunde noch einen guten pfälzischen Rotwein geöffnet und mich gefragt, was ich in meinem Leben noch erreichen wolle. Bei der Suche nach einer Antwort auf diese direkte Frage nahm das, was bisher nur eine Ahnung gewesen war, in mir klare Umrisse an. Ich spürte deutlich, dass Veränderungen, Entscheidungen für mich anstanden. Dass ich mich aufmachen musste, neue Wege - oder vielleicht alte neu - zu gehen. In jeglicher Hinsicht.

Es war an der Zeit, einen Schalter umzulegen. Und ich beschloss, sobald ich meinen Termin in Tübingen erledigt haben würde, nach Hause zu fahren und dort meine unmittelbare Umgebung zu ergründen. Herauszufinden, was für mich Heimat ist. Was mich ausmachte - mich als Frau aus dem Osten und als Frau mit Behinderung.